LEBENS-SITUATION: UNGELÖSTES und UNERLÖSTES
Geheimnisse und Eigenarten gehören zu unserer Persönlichkeit und zur Entwicklung. Wenn jedoch unverarbeitete Erlebnisse oder Verhaltensmuster ein unkontrollierbares schattenhaftes Eigenleben führen, dann verliert der Mensch die innere Freiheit.
Die Themen UNGELÖSTES und UNERLÖSTES haben so viele Aspekte wie es unterschiedliche (Über-)Lebensstrategien gibt:
Da sind alle Arten von Fluchten in Aktivitäten, welche schnell zu Süchten werden: Alkohol, Spiel, Konsum, Sex, Macht, unreflektierte Gefolgschaft von "Gurus" (in Politik, Religion, Lebensansichten), zudem enstehen Angststörungen, Zwangsstörungen und die eigenen Schwächen werden nach außen auf Arbeitskollegen, gesellschaftliche Gruppen, den Partner und die eigenen Kinder proijeziert...
Per se UNREFLEKTIERTES ist bei der Verdrängung eines Lebensthemas bzw. Ereignisses auch in allen anderen Bereichen zu finden.
Z.B. können Gewaltopfer in der eigenen Erziehung selbst zum Täter in der Erziehung ihrer Kinder werden.
Auch der hier betrachtete Woyzeck (Büchner) bzw. Wozzeck (Berg) ist OPFER UND TÄTER.
In der zuerst vorgestellten Szene aus Elektra (Richard Strauss / Text: Hugo von Hoffmansthal) beschleicht das Verdrängte gräßlich die Träumende, in der Wozzeck-Szene schrecken die Gesichte bzw. verzerrten Wahrnehmungen die gequälte Seele selbst am hellen Tag.
RICHARD STRAUSS "Elektra" (Oper) (Text: Hugo von Hoffmansthal)
Klytämnestra
Ich habe keine guten Nächte.
Weisst du kein Mittel gegen Träume?
Elektra
Träumst du, Mutter?
Klytämnestra
Wer älter wird, der träumt.
Allein es lässt sich vertreiben. Es gibt Bräuche.
Es muss für alles richtige Bräuche geben.
Darum bin ich so behängt mit Steinen.
Denn es wohnt in jedem ganz sicher eine Kraft.
Man muss nur wissen, wie man sie nützen kann.
Wenn du nur wolltest,
du könntest etwas sagen, das mir nützt.
Elektra
Ich, Mutter, ich?
Klytämnestra
Ja, du! denn du bist klug.
In deinem Kopf ist alles stark.
Du könntest vieles sagen, was mir nützt.
Wenn auch ein Wort nichts weiter ist!
Was ist denn ein Hauch!
und doch kriecht zwischen Tag und Nacht,
wenn ich mit offnen Augen lieg', ein Etwas hin über mich,
es ist kein Wort, es ist kein Schmerz, es drückt mich nicht,
es würgt mich nicht, nichts ist es, nicht einmal ein Alp,
und dennoch es ist so fürchterlich,
dass meine Seele sich wünscht, erhängt zu sein,
und jedes Glied in mir schreit nach dem Tod,
und dabei leb' ich und bin nicht einmal krank;
du siehst mich doch: seh' ich wie eine Kranke?
Kann man denn vergehn, lebend, wie ein faules Aas?
kann man zerfallen, wenn man garnicht krank ist?
zerfallen wachen Sinnes, wie ein Kleid,
zerfressen von den Motten?
Und dann schlaf' ich und träume, träume!
dass sich mir das Mark in den Knochen löst,
und taumle wieder auf,
und nicht der zehnte Teil der Wasseruhr
ist abgelaufen, und was unter'm Vorhang hereingrinst,
ist noch nicht der fahle Morgen, nein,
immer noch die Fackel vor der Tür,
die grässlich zuckt wie ein Lebendiges
und meinen Schlaf belauert.
Diese Träume müssen ein Ende haben.
Wer sie immer schickt:
ein jeder Dämon lässt von uns,
sobald das rechte Blut geflossen ist.
ALBAN BERG "WOZZECK" (Oper nach Textfragmenten von GEORG BÜCHNER)
Ein ergreifendes Dokument der Empathie, der Hilflosigkeit und des Wegs vom Opfer zum Täter
Georg Büchner hat sein unvollendetes Textfragment "Woyzeck" 1836-37 geschrieben.
Alban Berg Wozeck hat dieses Textfragment in seiner Oper Wozzeck 1922 vertont.
HEUTE sind Dichtung und Oper im Verständnis der Existenz von Entwicklungstraumata nochmals eine Wiederentdeckung.
In dieser Art der sezierend glasklaren Sicht und der berührenden Darstellung ist Woyzeck bzw. Wozzeck wohl unerreicht.
Der Stoff der Handlung beruht auf einem realen Fall. Dieser wurde im Rahmen der Untersuchung, ob bei dem Täter (Tötung von Marie) Woyzeck eine Schuldfähigkeit vorliegt, dokumentiert. Die Bewertung der Umstände, welche zu der Tat geführt haben (welche auch nach heutigen Maßstäben relativ akribisch und aussagekräftig festgehalten sind) ist heute natürlich eine ganz andere als vor 200 Jahren - aber der Aspekt des Entwicklungstraumas wird immer noch nicht als Konsens bzw. Standard pathologisch gewürdigt.
Allein schon aus diesem Grund ist eine Hilfestellung im Bewusstsein der Existenz von Entwicklungstraumata unabdingbar und sollte auch z.B. in psychatrischen Gutachten und im Strafvollzug endlich größere Beachtung finden. Dazu müsste der Begriff an sich überhaupt erst einmal im „International Classification of Diseases“ (dem "internationalen Diagnosesystem der Krankheiten" - aktuell ICD-11) aufgenommen sein.
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ALBAN BERG "WOZZECK" (Text: GEORG BÜCHNER) Zweite Szene
Freies Feld, die Stadt in der Ferne. Spätnachmittag. Wozzeck und Andres schneiden Stöcke im Gebüsch.
WOZZECK ANDRES
Du, der Platz ist verflucht!
(weiter arbeitend; gesprochen)
Ach was!
(singt vor sich hin)
Das ist die schöne Jägerei,
Schiessen steht Jedem frei!
Da möcht ich Jäger sein,
Da möcht ich hin.
Der Platz ist verflucht!
Siehst Du den lichten Streif da
über das Gras hin,
wo die Schwämme so nachwachsen?
Da rollt Abends ein Kopf.
Hob ihn einmal Einer auf,
meint', es wär' ein Igel.
Drei Tage und drei Nächte drauf,
und er lag auf den Hobelspänen.
(Wozzeck arbeitet weiter)
Es wird finster, das macht Dir angst.
Ei was!
(hört mit der Arbeit auf, stellt sich in Positur und singt)
Läuft dort ein Has vorbei,
Fragt mich, ob ich Jäger sei?
Jäger bin ich auch schon gewesen,
Schießen kann ich aber nit!
(Wozzeck unterbricht seine Arbeit.)
Still, Andres! Das waren die Freimaurer!
Saßen dort zwei Hasen,
Fraßen ab das grüne Gras.
(unterbricht den Gesang)
Ich hab's! Die Freimaurer!
Still! Still!
(Beide lauschen angestrengt. Dann Andres selbst etwas beunruhigt; wie um Wozzeck und sich zu beruhigen.)
Sing lieber mit!
(ausgelassen gesungen)
Fraßen ab das grüne Gras
Bis...
(unterbricht den Gesang)
(stampft auf)
Hohl! Alles hohl!
... auf den Rasen ...
Ein Schlund! Es schwankt!
(er taumelt)
Hörst Du, es wandert was mit uns da unten!
(in höchster Angst, geschrieen)
Fort, fort!
(will Andres mit sich reißen)
(hält Wozzeck zurück)
He, bist Du toll?
(bleibt stehn)
's ist kurios still. Und schwül.
Man möchte den Atem anhalten...
(starrt in die Gegend)
Was?
(Die Sonne ist im Begriff unterzugehen. Der letzte scharfe Strahl taucht den Horizont in das grellste
Sonnenlicht, dem die wie tiefste Dunkelheit wirkende Dämmerung folgt.)
Ein Feuer! Ein Feuer! Das fährt von der Erde in den Himmel
und ein Getös' herunter wie Posaunen.
(schreiend)
Wie's heranklirrt!
(mit geheuchelter Gleichgültigkeit)
Die Sonn' ist unter, drinnen trommeln sie.
(Packt die geschnittenen Stöcke zusammen.)
Still, alles still, als wäre die Welt tot.
Nacht! Wir müssen heim!
(Beide gehen langsam ab.)
Nicht die Anfechtung selbst ist das Problem - sondern wenn wir uns dem Problem und dessen Lösung nicht stellen!
Die eigenen Geheimnisse und Eigenarten, die man selbst ablehnt und leugnet - und zudem noch als Stigma erlebt, sind die am schwersten zu bearbeitenden und überwindenden Schatten. Ebenso traumatisch Erlittenes, für das man keinen "wissenden Zeugen" hat - z.B. im Falle eines Missbrauchs. Das anzusehen und einem anderen Menschen zu offenbaren erfordert äußersten Mut und sehr viel Vertrauen.
In unserer gemeinsamen Arbeit werden Sie erleben, dass ich nichts im zwischenmenschlichen Bereich als befremdlich oder ungehörig empfinde. Es gibt für mich somit auch keinerlei Tabus. Das mag daran liegen, dass ich selbst im Leben selbst schon so viel erlebt und „falsch“ gemacht habe. Jedes Fehlverhalten, welches ich dann selbst und im Austausch mit anderen Menschen offen reflektiert habe, hat mich menschlich und im Bewusstsein weiter gebracht.
Alban Berg: Wozzeck Oper
- 1.Akt, 2.Szene
Mack Harrell (Wozzeck) / David Lloyd (Andres)
Dimitri Mitropoulos / New York Philharmonic
12.April 1951 (CD: SONY -
EAN 074646275924)
Richard Strauss: Elektra Oper
- "Ich habe keine guten Nächte"
Inge Borkh (Elektra)
Jean Madeira (Klytämnestra)
Karl Böhm / Staatskapelle Dresden
Oktober 1960
(CD: DG -
EAN 028943173728)
Richard Strauss: Elektra Oper
- "Ich habe keine guten Nächte"
Astrid Varnay (Elektra)
Elisabeth Höngen (Klytämnestra)
Fritz Reiner / Metropolitan Opera O.
18.2.1952
(CD: ARL -
EAN 8016811750203)